my Body my Place


Gabrielle Obrist zur Installation in der Kunsthalle Wil 
Nesa Gschwend lässt ihre physische Wahrnehmung zum Brennglas für das Fremde werden. Während ihres mehrmonatigen Aufenthalts in Varanasi (Pilgerort im Staat Uttar Pradesh, Indien) 2009 tauchte die Künstlerin ein in die von extremen Gegensätzen geprägte Welt des indischen Subkontinents. Die Irritation und Faszination, welche ihr die Berührung mit dem oft Unverständlichen bescherte, liess sie noch vor Ort in ihr künstlerisches Gestalten einfliessen und schuf performative, filmische wie zeichnerische Werke von grosser Intensität und Dichte. Die von ihr verinnerlichten Begegnungen mit sehr unterschiedlichen Menschen und Lebensumständen, ihre Beobachtungen und Schlüsse führte sie in bildstarke Metaphern über und konfrontierte die Passanten ihres temporären Wirkungsortes mit ihren für die Einheimischen ihrerseits fremdartigen Ausdrucksformen.
     So entstand für die Künstlerin ein Dialog mit ihrem Gastland, der es ihr erlaubte, Bewunderung für die vielschichtige Kultur auszudrücken, kritische Fragen zur gesellschaftlichen Hierarchie nonverbal in den Raum zu stellen sowie ihre persönliche Sichtweise in prägnanten Ritualen auszudrücken.
In der Kunsthalle Wil breitet Nesa Gschwend die ganze Vielfalt ihrer indischen Werke aus, wobei die über einen Zeitraum von vielen Wochen entstandenen Arbeiten nun als ein grosses Ganzes verflochten sind und die einzelnen Exponate gleich variierenden Splittern eines Kaleidoskops einen immer wieder neuen Gesamteindruck entstehen lassen. Dreh und Angelpunkt allen Tuns und Schaffens ist der Körper der Künstlerin, der als Akteur oder als Projektionsfläche, als Störfaktor oder als Antenne im Einsatz steht.
     Körperhüllen galt vor Ort das besondere Augenmerk Nesa Gschwends, so erkannte sie in der Verwendung von Saris die Möglichkeit sich mit spezifischen sozialen Fragen auseinanderzusetzen, geben doch schon die materielle Beschaffenheit der verwendeten Stoffe und die Muster deutlich Auskunft über die Lebensumstände der Trägerin. Ein Sari ist eine fünf bis sechs Meter lange Stoffbahn, die an der einen Schmalseite mit einer breite Schmuckborte von anderer Farbe abschliesst. So gedieh bereits das Erwerben von getragenen und ausrangierten Saris der Künstlerin zu einer Milieu-Erkundung und offenbarte ihr Mechanismen von Armut und Geschlechter-Differenz. Die unlösbaren Verstrickungen des Lebensfadens und die schiere Unmöglichkeit, aus der von Geburt vorgegebenen gesellschaftlichen Hierarchiestufe (Kaste) auszubrechen, sind Themen, die folglich in den zerrissenen, verknüpften, zu Ballen gewickelten, die Ausstellung wie Spinnenfäden durchziehenden Sari-Relikten eingeflochten sind: Alle Erfahrung der vormaligen Besitzerinnen dieser Kleider und das wiederholt aufkeimende ohnmächtige Hadern der Künstlerin angesichts der beobachteten und erlebten Verhältnisse scheinen eingeflochten in diese verknäuelten Stränge. Eine besondere Prägnanz erhielten diese Knotenschnüre, als Nesa Gschwend ihren Körper vielfach damit umwickelte und sich, so behängt, regungslos inmitten eines chaotischen Kreiselverkehrs (Chowk) den neugierigen Augen der Vorübergehenden und Vorbeifahrenden präsentierte. Sie, die Fremde, verfremdete die Normalität des Alltags mit zu rituellen Requisiten stilisierten ortsüblichen Körperhüllen und entrückte sich selbst mitten im Trubel aus dem eigentlichen Geschehen. Welche Faszination und Verwunderung diese absonderliche Präsenz bei den Hinzutretenden bewirkte, zeigen die Filmaufnahmen dieser Performance «Red strings through my Hands», die darüber hinaus immer wieder überraschende Nebenschauplätze vor Augen führen.
     Als ein weiteres vielschichtig erkundbares Werk erweist sich das zeltartige Tuch-Gebilde, dessen Oberfläche über und über mit roter Schrift überzogen ist. Nesa Gschwend hat hier einen Speicher geschaffenen, dessen Inhalt indes nicht ohne weiteres zu entziffern ist. Vergleichbar einem Palimpsest liegen Worte unter einer überlagernden Textschicht oder sind durch das Tränken des Stoffes in Wachs zur Unleserlichkeit zerflossen. Das Niedergeschriebene spiegelt die halbbewussten Wahrnehmungen und mäandernden Gedankengänge der Künstlerin bei ihrem stundenlangen Verweilen am Tulsighat. Unbeteiligt sass sie auf dem flachen Dach eines der dem Ganges zugewandten Schreine und protokollierte kalligraphierend das sie umgebende Geschehen und ihr eigenes absichtsloses Sinnieren.
     Das einem meditativen Ritual ähnliche Niederschreiben des von aussen und innen Zufliessenden ist zu sehen in den synchronen Video-Projektionen, die Ausschnitte aus der Performance «My Body my Place» in den Morgen- und Abendstunden zeigen. Das ereignisarme Geschehen am Ufer des träge dahinfliessenden Ganges paart sich mit dem einförmigen Tun der Künstlerin. Nur ab und an würzt ein kurze Episode das sich dehnende Fortschreiten der Schreibarbeit – Intermezzi, die ihrerseits im Kontinuum des am Ganges vollzogenen weltlichen und religiösen Lebens selbstverständlich eingewoben sind. Die aus diesem Prozess hervorgegangene vollgeschriebene Plache mag als Erinnerungs-Journal, als Relikt eines gelebten Tages, als abgelegtes Tages-Gewand des Ortes, als zurückgelassener Kokon des unablässig metamorphosierenden Genius loci gelesen werden. In diese Hülle einzutreten und sich auf das kryptischen Schriftzeugnis einzulassen, lädt Nesa Gschwend die Betrachterinnen und Betrachter in der Ausstellung ein.
Flankiert werden die beiden Installationen von den Zeichnungsserien, die parallel zu allen Filmen und Performances sukzessive entstanden sind. Dem Motiv der unterschiedlich geführten Linien liegt die Mala zugrunde, die im Hinduismus und Buddhismus gebräuchliche Gebetskette. Nesa Gschwend hat ihr Augenmerk insbesondere auf die aus zarten Blüten oder Rosen geschaffenen vergänglichen Zierden gerichtet, die von den Pilgern um den Hals getragen und den Gottheiten verehrt werden. Die duftige Zartheit dieser Blumenketten ist von betörender Schönheit und drückt im religiösen wie zwischenmenschlichen Bereich eine emotionale Wertschätzung gegenüber dem Beschenkten aus. In der abstrahierenden Interpretation dieser Blüten-Mala macht die Künstlerin die Flüchtigkeit des Lebens und – angesichts der schwierigen Daseinsbedingungen der Menschen am Ganges – die Kostbarkeit des Ideellen zu ihrem Thema.



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