aufWand 10/11 im Theater Tuchlaube, Aarau


Lena Friedli: Gedanken zum Werk von Nesa Gschwend

Im Theater bestimmt ein ständiges Kommen und Gehen die Tagesordnung: Publikum, Schauspieler, Stücke, Gäste kommen, bleiben, wechseln und gehen wieder – Saison für Saison. Es ist ein dynamischer Ort mit viel Bewegung und Begegnung. Ob auf der Bühne, im Zuschauerraum oder in der Theaterbar, Leute treffen, sehen und begegnen sich. Jedes Jahr werden diese Begegnungen
durch ein Kunstwerk ergänzt, das an Ort und für diesen Ort geschaffen wird.
    Dieses Jahr hat sich Nesa Gschwend an Ort zu schaffen gemacht. Die im St. Galler Rheintal geborene und in Niederlenz (AG) lebende Künstlerin ist viel gereist und hatte Atelieraufenthalte in Berlin, Indonesien, Prag oder wie letztes Jahr (2009) in Varanasi, Indien. Ihr aufWand-Werk trägt den Titel „Fluss“, was einiges an Assoziationen zulässt. Wenn man zudem weiss, dass das Werk Aarti gewidmet ist, einer Sadhufrau, die Nesa während ihres Aufenthaltes in Varanasi am Ganges kennengelernt hat, so verbinden sich Titel und Werk: Es hat etwas mit einem Fluss, mit dem Fliessen, mit Bewegung und eben Begegnung zu tun. Ein Fluss hat eine Strömung, transportiert Wasser in eine Richtung, unablässig, ohne Unterbruch. Der Ganges ist der heilige Fluss der Inder. Aarti lebt dort.

    Nesa Gschwends Werk zeigt Gesichter in zwei Linien auf- und aneinander gereiht.     Scherenschnittgleich blicken zwanzig Köpfe in den Raum. Die Wand selbst erhielt einen tiefroten Anstrich, was von weitem als reiner Farb- und Stimmungswert dominiert. Von nahem jedoch gewinnt die Materialität unsere Aufmerksamkeit. So dient die von der Farbe nahezu durchtränkte Wand als Hintergrund, beziehungsweise Ausgangspunkt für das, was die Künstlerin auf der Oberfläche darüber entwickelt. Den Mittelpunkt des Werks bilden zwei horizontal über die Wand gespannte, auf Holzlatten befestigte, beigefarbene Bänder. Von weitem noch kaum identifizierbar, offenbart sich deren Material beim Nähertreten als fragiles textilartiges Gewebe.
    Tatsächlich ist es in Wachs getränktes Papier, welches zugeschnitten und anschliessend vernäht wurde. Die Assoziation Scherenschnitt kommt auf. Eine einfache, gängige Definition des Scherenschnitts könnte folgendermassen lauten: Beim Scherenschnitt wird Papier oder ein anderes planes Material mittels einer Schere oder speziellen Schnittinstrumenten so bearbeitet, dass entweder der verbleibende Umriss oder die Ausschnitte oder beides ein anschauliches Bild ergeben, das sowohl realistisch als auch schematisch sein kann. Damit ist auch die Assoziation eines Musters berechtigt. Nesas Werk zeigt einerseits klar erkennbare Gesichter, besitzt andererseits aber auch eine abstraktere, formale Komponente. Ein Muster ist per se eng verknüpft mit einem gewissen Schematismus. Es ist definiert durch die Wiederholung gleicher Einzelteile in der Fläche. Doch jedes der Gesichter in Nesas Werk ist anders und keines gibt es zwei Mal.
    Da „Fluss“ in Linien aufgebaut ist und die Einzelteile im Detail unterschiedlich sind, kann es als ornamentaler Fries bezeichnet werden. Die besondere Raffinesse des Werks besteht in der eingebauten Spiegelung. Ineinander übergehend, fast verschlungen ist jeder Kopf gespiegelt nochmals dargestellt. Durch die in gerade Linien auslaufenden Schulterpartien der Dargestellten ergibt sich eine abgeschlossene Rahmung der zwei Bänder, innerhalb derer jedoch verspielt und bewegt jeweils zwei Reihen von Köpfen erscheinen. Insgesamt vierzig Köpfe blicken also aus der Wand in die Theaterbar und bilden ein Gegenüber für die Theaterbesucher.
    Die spiegelbildliche Abbildung ist auch in der Geschichte des Ornaments ein gängiges Prinzip. Dabei treten Unregelmässigkeiten, Verschiebungen innerhalb der Symmetrie und Wiederholung oft auf. Obwohl jedes anders ist, wirken die Gesichter sehr ähnlich. Ihre Formwerdung ergab sich unter denselben Bedingungen und ihr Ausdruck ähnelt sich. Gesicht an Gesicht bildet sich eine Reihe, eine Wiederholung und das Bandartige an der Wand wird in der Wirkung sofort zum Ornament, bei dem das Ganze gegenüber den Einzelteilen dominiert.
    Die Frage, ob die Gesichter eher als Gruppe oder als Einzelpersonen zu verstehen sind, lässt sich nicht so leicht beantworten. Vielleicht passt aber gerade dies wiederum zum Theater. Auch dort sind es häufig Einzelpersonen, die von überall her kommend für einen Abend zu einer Gruppe werden, gemeinsam den Resonanzkörper bilden für das, was sich auf der Bühne abspielt und danach wieder ihres Weges gehen. Ebenso offen bleibt die Frage, ob es sich bei den Gesichtern, die uns auf der Wand begegnen um Porträts handelt. Waren es konkrete Individuen, welche Nesa dargestellt hat? Oder sind es bloss Hüllen, Masken, und was ist Dahinter? Die meisten scheinen nett zu sein, wirken lustig. Andere sind schwer einzuschätzen, ihr Ausdruck gleicht eher einem ungemütlichen Grinsen. Nesas Umgang mit dem Porträt funktioniert hier auf einer diffusen Ebene und ist damit weniger klar definiert als in den bereits bekannten Serien der Künstlerin (vgl. Katalog Kunsthalle Wil). Das Porträt, gemeinhin als individuelles, charakteristisches Abbild eines Individuums verstanden, wurde in ein Muster umgesetzt und dadurch systematisiert und abstrahiert. So schwanken die Gesichter zwischen Maske, Schemen und Gesicht.
    Aarti singt in ihrem Lied bei einer Begegnung mit Nesa folgende Worte:


Wenn ich gehe
werde ich ein Lächeln haben
Irgendwann lieber Freund
müssen wir alle gehen
Und wer weiss, wann das ist


Aarti, die „heilige Flamme“ (so die Bedeutung des Namens) und liebgewonnene Freundin Nesas, erscheint nur indirekt in dem Werk durch die Widmung und die Assoziationen, welche hervorgerufen werden. Alles in allem geht es um eine Begegnung – ein Aufeinandertreffen ‚im Fluss’ inspiriert durch das Leben am Fluss. Der Werktitel „Fluss“ steht für Nesa für die Begegnung mit den Leuten am Ganges und für die Weiterführung des Werks mit ihrer diesjährigen Ausstellung im Aarauer Rathaus, welche sich ebenfalls thematisch mit Indien befassen wird. Mit der Anbringung des Werks in der Tuchlaube-Bar entstehen mehrere Verbindungen: eine Verbindung zwischen dem Rathaus und der Tuchlaube, der Schweiz und Indien und damit auch zwischen der nahen Aare und dem Ganges. Das Theater als Kulturort und Begegnungsstätte wird in einen Zusammenhang gestellt mit dem Rathaus als "Ort der Verwaltung von Menschen", wie Nesa Gschwend es nennt. Es sind zwei unterschiedlich Orte, an denen sich Menschen begegnen. Obwohl ein öffentlicher Ort, soll die Theaterbar mit dem diesjährigen aufWand wegen und für Aarti Intimität ausstrahlen, welche die Künstlerin vor allem durch die Wahl der Materialien umgesetzt hat. Die Fragilität des Gesichter-Frieses steht für das Ausgeliefertsein. Denn Aarti lebt in sehr armen, ungeschützten Verhältnissen in einer von Männern dominierten Welt am Ganges. Verletzbarkeit, Ausgeliefertsein und Nacktheit treffen auf Aartis Lebenssituation zu, in einem übertragenen Sinn aber auch auf die Bühnensituation der Schauspieler im Theater.


Link zum Theater Tuchlaube