Rathaus Aarau, Vernissage 22. Oktober 2010


Eine Einführung von Corinne Schatz, Oktober 2010

Wie eine Lebensader durchströmt die Arbeit „Red Strings Through My Hands“, welche auch der Ausstellung von Nesa Gschwend den Namen gibt, das Aarauer Rathaus und verbindet nicht nur die Raumebenen sondern auch die darin gezeigten Arbeiten miteinander. Durch alle vier Stockwerke hinauf schlingen sich die aus hauptsächlich roten Saris geknüpften Seile, verknoten sich an manchen Stellen und steigen in mehreren Strängen in die Höhe.
    Die meisten Arbeiten, die Nesa Gschwend in Aarau zeigt, sind während oder anschliessend unter dem Eindruck ihres sechsmonatigen Aufenthalts 2009 in Indien, in Varanasi, jenem geschichtsträchtigen Pilgerort am Ganges entstanden. Es sind Installationen, Objekte, Zeichnungen, aber auch Videoaufnahmen von Performances. Es kristallisieren sich darin die Faszination wie auch die Zwiespältigkeit angesichts der viel zitierten Gegensätzlichkeit dieses Subkontinents, wo Archaisches neben Futuristischem parallel existiert und man von Augenblick zu Augenblick von weit entfernter Vergangenheit in die Zukunft katapultiert wird.
 
Zwei Themenkreise möchte ich in meiner Ansprache aufgreifen, die in diesen Arbeiten exemplarisch Ausdruck erhalten und sich zugleich nahtlos in das Gesamtwerk von Nesa Gschwend einfügen. Dies ist zum einen mit den Stichworten „Körper – Haut – Hülle – Raum“, zum andern mit den Worten „Zeit – Vergänglichkeit – und einer aktiven oder kontemplativen Haltung“ zu umreissen. Beide Themenkreise berühren und durchdringen sich in den Werken von Nesa Gschwend in vielfältiger Weise.       
Der Körper als Raum der eigenen Existenz, die Haut als Grenze zwischen innen und aussen und zugleich als permeable Membran, welche die Begegnung, die Berührung mit der Aussenwelt überhaupt ermöglicht, sind von zentraler Bedeutung in Nesa Gschwends Arbeit seit Beginn an. Und eng mit der Haut verbunden und häufig als Metapher für diese, aber auch in ihrer selbstbezogenen Bedeutung tritt die textile Hülle immer wieder in Erscheinung. Der Sari, diese 5-6 Meter lange Stoffbahn, die mit spezieller Technik um den Körper gewickelt wird, könnte als eine Urform der Bekleidung gesehen werden. Dass sich in dieser Bekleidung nicht nur die persönlichen Lebensspuren ihrer Trägerinnen einprägen, sondern an den Farben und Mustern und der Stoffqualität – die vom einfachen Baumwollstoff bis zur goldbestickten Seide reicht – sowie in der Wickeltechnik auch die geografische und ethnische sowie die soziale Herkunft ablesbar werden, geben diesen Textilien eine über das Individuelle hinausgehende gesellschaftliche Bedeutung. So ist der Sari zugleich schützende Bekleidung wie entblössendes Merkmal.       
Diese Ambivalenz nutzt Nesa Gschwend auch in ihrer zweiten Arbeit, in der sie die Sari-Seile eingesetzt hat. Ich zitiere dazu Gabrielle Obrist, die Kuratorin in der Kunsthalle Wil: „Eine besondere Prägnanz erhielten diese Knotenschnüre, als Nesa Gschwend ihren Körper vielfach damit umwickelte und sich, so behängt, regungslos inmitten eines chaotischen Kreiselverkehrs den neugierigen Augen der Vorübergehenden und Vorbeifahrenden präsentierte. Sie, die Fremde, verfremdete die Normalität des Alltags mit zu rituellen Requisiten stilisierten ortsüblichen Körperhüllen und entrückte sich selbst mitten im Trubel aus dem eigentlichen Geschehen. Welche Faszination und Verwunderung diese absonderliche Präsenz bei den Hinzutretenden bewirkte, zeigen die Filmaufnahmen dieser Performance «Red Strings through my Hands», die darüber hinaus immer wieder überraschende Nebenschauplätze vor Augen führen.“
Wenn also die Künstlerin umschlungen von diesen Sari-Seilen mitten im Verkehr auf einer Kreuzung steht, symbolisieren sie schützende Hülle aber auch schicksalhafte Verstrickung.
    In einer anderen Weise hat Nesa Gschwend in der Performance und Installation My Body My Place eine Hülle geschaffen: In dieser Videoarbeit sehen wir zwei Ausschnitte – einen vom Morgen und einen vom Abend - aus einer mehrstündigen Performance. Die Künstlerin sitzt auf dem Dach eines der zahllosen Schreine am Ufer des Ganges, mit dem Rücken zum Wasser. Auf ihrem Schoss liegt ein grosses Tuch auf das sie fortwährend schreibt. Verschiedene Flüsse schieben sich aneinander vorbei: im Hintergrund der heilige Fluss Ganges, die Lebensader des Hinduismus, im Vordergrund die Menschen und Tiere, die an ihr vorbeiziehen. Die Schreibende ist ausserhalb dieser beiden Ströme und erzeugt zugleich einen dritten – den Strom der Gedanken, der sich im Schreiben auf das Tuch ergiesst.
    Am Ganges spielt sich sowohl alltägliches, spirituelles und rituelles Leben ab, ja das Rituelle ist durch die nie endenden Pilgerströme aus dem ganzen Land eigentlich das Alltägliche an diesem Ort. Darin fügt sich Nesa mit ihrem Tun ein. Aus dem Tuch, in das die Beobachtungen von einem Tag an einem Ort eingeschrieben sind, wird ein Gehäuse – so wie die Welt in diesen Stunden um sie herum verging so umfängt einen nun als Konzentrat, als Spur und Haut, dieser ganze Tag mit allen Eindrücken. Auch wenn die Schrift für uns nicht zu entziffern ist, ist ihr Gehalt präsent und bildet einen Erinnerungsraum.

Zwei Haltungen nimmt Nesa Gschwend in den beiden genannten Arbeiten gegenüber der Welt und dem Lauf der Zeit ein: das in Ruhe Stillsitzen und das im Fluss Mittreiben und Mitwirken, indem sie ihr eigenes „Ritual“ durchführt. Und damit knüpft sie an Lebenshaltungen an, die in unserer Kultur, zurückgehend auf Aristoteles, mit vita contemplativa und vita activa bezeichnet werden. Die Selbstverständlichkeit, mit der in Indien beide Lebensweisen nebeneinander und miteinander existieren, ist uns in Europa verloren gegangen. Bei uns ist Aktivität längst in Aktivismus übergegangen.
    Vor diesem Hintergrund ist die Vertiefung in ein einfaches Tun, ein aktives Sein und zugleich die Ruhe im stillen, stundenlangen Dasitzen oder Dastehen, wie wir es in diesen beiden beschriebenen Performances beobachten können, von grosser Wirkung und Aussagekraft.
In beiden Werkgruppen wird die nicht zu bestimmende, weil fliessende Grenze zwischen Materie und ihrer Auflösung ins Immaterielle, zwischen dem Sichtbaren und dem Spirituellen erahnbar.



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