Aarti


Kurz nach meiner Ankunft in Varanasi anfangs Juli fuhr ich zum Assi-Ghat und lief von dort aus den Ganges entlang, um einen geeigneten Ort für meine Videoarbeit zu finden. Jeder der achtzig Ghats hat eine andere Ausstrahlung. Vom ersten Moment an mochte ich den Tulsi-Ghat besonders gern. Zwei Treppen führen hinunter ans Wasser, und zwischen ihnen stehen drei kleine, zum Fluss hin offene Tempelhäuschen mit Götterfiguren in ihrem Inneren.
Ich setzte mich auf das Dach des mittleren, den Fluss im Rücken, und schaute lange direkt auf die Treppe und die Fassade des darüber stehenden Gebäudes.
    In den zwei kleinen Nischen rechts und links des verschlossenen Eingangs hatte sich eine Frau eingerichtet: Aarti – eine schöne, etwa fünfzigjährige Frau, die alleine als Sadhu in diesen Nischen am Ganges lebt. In der einen Nische sah ich eine kleine Feuerstelle und etwas Kochgeschirr. Das Holz zum Kochen suchte sie am Flussufer, und das Wasser schöpfte sie mit einem Tontopf aus dem Ganges. In der anderen Nische lagen einige Saris und alte Kleider – ihr Schlafplatz. Zum Trocknen hängte sie diese vor den Eingang und schützte sich so gleichzeitig vor unerwünschten Blicken.
 

Nicht weit von ihrer Nischenbehausung wollte ich die Kamera für meine Videoarbeit positionieren, und so setzte ich mich für längere Zeit an jener Stelle auf die Treppe und betrachtete das stete Kommen und Gehen der Menschen und Tiere am Fluss.
     Einige Tage später kehrte ich mit Alessandre, einem Schweizer Schriftsteller, an den Tulsi-Ghat zurück, um die Videoperformance «my Body my Place» aufzunehmen.

    Während Stunden sass ich auf dem Dach des mittleren Tempelhäuschen, bei über vierzig Grad Hitze, und schrieb all die kleinen Ereignisse, die ich um mich herum wahrnahm, auf ein Tuch. Aarti kauerte währenddessen vor ihrer Behausung und beobachtete uns. 
    Tage später, als ich wieder dort sass, setzte sie sich zu mir. Wir schauten uns einfach an, und dabei wedelte sie uns beiden mit ihrem Fächer Luft zu. In den folgenden Wochen besuchte ich sie immer wieder und brachte ihr jeweils ein paar Äpfel oder Mangos mit. In einem Stoffbeutel bewahrte sie ihre Bücher auf mit Götterbildern, die sie mir in Hindi beschrieb, und heiligen Texten, und aus denen sie mir zwischendurch immer wieder Passagen vorsang.