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Die Grand Trunk Road ist eine mehrspurige, dicht befahrene Strasse parallel zur Eisenbahnlinie. Sie ist die Hauptverkehrsader durch den ganzen indischen Subkontinent – von Kalkutta über Delhi bis nach Kabul – und wird vorwiegend von grossen Überlandlastwagen befahren. Hinter dem Bahnhof, zwischen dem Eisenbahntrassee und dieser Strasse eingeklemmt, liegt eine Hüttensiedlung aus Bambusstöcken, Plastikfolien, alten Saris, mit kleinen Feuerstellen und Unmengen von Müll. Der Strasse entlang werden bündelweise alte Saris zum Verkauf angeboten; weitere Ballen liegen am Strassenrand. Alles an diesem Ort ist mit einer dicken Staubschicht bedeckt, die Saris, die Hütten und auch ihre Bewohner.
Ich stieg aus dem Tuktuk; sofort rannte eine Schar Kinder auf mich zu und alle wollten, dass ich sie fotografiere und dafür bezahle. Gleichzeitig lief eine Gruppe junger Männer mit einem Toten auf ihren Schultern die Strasse entlang. Sie hatten ihn in ein einfaches, weisses Tuch gewickelt, orange Blumenketten und etwas rotes Farbpulver schmückten ihn auf diesem letzten Gang – keine roten und goldbesetzten Stoffe, nur das Nötigste. Für die Träger schien es einfach ein Job wie jeder andere zu sein.
Als ich bei einer der Frauen einige Saris kaufen wollte, waren sogleich ihre fünf Kinder da und halfen mir beim Aussuchen. Mit der Zeit bildete sich von der Strasse her eine Traube neugieriger Männer um uns. Kaum hatte ich zwanzig Saris ausgesucht und mit ihr den Preis von zweihundert Rupien ausgehandelt, erschien ihr Mann und verlangte das Doppelte. Erst versuchte ich, ihm klar zu machen, dass sie es war, mit der ich verhandelt hatte, und dass er sich nicht einmischen solle. Es half nichts, und wir einigten uns auf dreihundert Rupien; er gab seiner Frau ein Zeichen, dass sie jetzt die Saris zu einem Bündel zusammen binden könne. Als er mir die Hand entgegen streckte, machte ich ihm wieder deutlich, dass ich das Geschäft mit seiner Frau begonnen hätte und ihr das Geld geben würde. Schliesslich gab er ihr erneut ein Zeichen, dass sie das Geld entgegennehmen könne. Sie nahm die Scheine, faltete zum Dank ihre Hände vor die Stirn und liess sie dann blitzschnell in ihren Büstenhalter verschwinden. Sie lächelte mir zu und ich hoffte, sie würde es behalten können. Denn bei meinem vorangehenden Besuch hier waren einige der Männer ziemlich betrunken und die Stimmung sehr angespannt gewesen, sodass ich ohne Saris wieder abgezogen war. Unterdessen hatten sich hinter mir einige der Männer mit ihren Rikschas positioniert. Sie wussten, dass ich eine auswählen würde; die enttäuschten Blicke der anderen waren jedoch nicht so einfach hinzunehmen.
Zurück in meinem Atelier wusch ich die Saris, befreite sie von der grauen Staubschicht. Erst jetzt kamen die kräftigen Farben der einfachen, zerschlissenen Stoffe zum Vorschein. Die Objekte, die daraus entstanden, sind Porträts jener Frauen, die sie getragen haben, und sie erzählen von ihren unterschiedlichen Lebensentwürfen.