Sari-Codes


Ich hatte mir vorgenommen, mich während meines Aufenthaltes mit textilen Materialien – genauer mit dem Sari, dem indischen Frauenkleid – auseinander zu setzen. In Varanasi tragen auch heute die meisten Frauen den Sari, dieses etwa sechs Meter lange Stofftuch, das sie auf unterschiedliche Arten um ihren Körper wickeln. Farben, Muster und Materialien signalisieren Zivilstand, Zugehörigkeit und Status innerhalb der Gesellschaft. Diese für alle erkennbaren Codes können für Frauen auch eine Stigmatisierung bedeuten. Der Sari ist jedoch nicht mein Kleid, er würde mich nicht schützen, sondern ausstellen, preisgeben. 
    Nebst den festgelegten Codes suchte ich nach kleinen, unscheinbaren Zeichen, die durch das Tragen entstehen und die Geschichten der Frauen speichern: Brandlöcher, durchgesessene Stellen, Risse, geflickte Nähte. Die Suche nach gebrauchten Saris aus unterschiedlichsten Materialien war denn auch mein erstes Eintauchen in diese Stadt.
Ich hatte gehört, dass in der Altstadt zwischen Dashawamedh-Ghat und Golden Temple ein Schneider gebrauchte Seidensaris zu Kleidern verarbeitet. 

Diese Altstadt besteht aus unzähligen, nur etwa einen Meter breiten, namenlosen Gassen, mit Hunderten kleinen Läden, die alle irgendetwas anbieten, nur meist nicht das, wonach man gerade sucht. Beim ersten Besuch gelang es mir in diesem Gewirr von Strassen, Menschen und Tieren nicht, den kleinen Stoffladen zu finden. Selbst den Golden Temple, in dessen Nähe er sich befinden soll, hatte ich nirgends entdeckt, und so fuhr ich ohne Saris zurück in mein Atelier. Erst beim folgenden Besuch fand ich den Golden Temple. Er ist umschlossen von alten Häusern und darum von nirgends her sichtbar, ausser man steht direkt vor ihm, und auch dann ist er eigentlich nur als Fragment erkennbar. Ich fand schliesslich auch den Schneider Pintu. Als ich ihn nach den gebrauchten Saris fragte, holte er dicke Bündel aus dem Lager hervor. Je rund fünfzig gebrauchte Seidensaris werden mit einem Sari zu einem Ballen zusammen gebunden. So konnte ich aus einem riesigen Haufen nach Saris mit jenen Mustern und Farben suchen, die ich für meine Arbeit verwenden wollte.
     Im Atelier riss ich sie in unterschiedlich breite Bänder, ich knotete, nähte und flocht sie zu langen Strängen zusammen. Da, wo ich sie zusammenfügte, entstanden Verdickungen, Knoten – Zeichen für die Ereignisse im Leben der Frauen, die sie getragen hatten, angereichert mit meinen eigenen Vorstellungen. Die Seidensaris aus Pintus Schneiderei erzählen von einem Leben in der besseren Gesellschaft, denn seidene Saris werden nicht von jenen Millionen Frauen getragen, die unter dem Existenzminimum leben und um das Überleben ihrer Familien kämpfen. Diese Frauen müssen sich mit einfachen Baumwoll- oder Kunststoffsaris begnügen, meist so lange, bis sie fast auseinander fallen. Eine andere Welt, die ich an einem anderen Ort in dieser Stadt suchen musste.